„Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg“
Laotse
Schule ist im Kern noch als Lösung für die Bildungsprobleme der ersten industriellen Revolution modelliert. Inzwischen erleben wir jedoch, wie die vierte industrielle Revolution Fahrt aufnimmt und unsere Gesellschaft mindestens genauso fundamental umkrempeln wird, wie es damals die erste Industrialisierung mit der vorrangig agraren, frühneuzeitlichen Gesellschaft tat. Trotz der immensen Zunahme menschlichen Wissens hat sich der organisatorische Wesenskern von Schule seitdem nicht verändert.
Unabhängig von allen organisatorischen, finanziellen und anderweitigen Gründen für die jetzige Form will ich mir hier schrittweise Gedanken zu Elementen einer vielleicht utopisch anmutenden Vision einer pädagogisch besseren Alternative zum aktuellen Berufskolleg machen. Keine Weiterentwicklungen würden noch mehr Rückstand bedeuten und so müssen sich besonders die berufsbildenden Schulen anpassen, da sie noch näher an der sich schnell verändernden beruflichen Realität zu sein haben. Hier sammele ich für mich einige Gedanken, wie diese Veränderung aussehen könnte:
Selbstgesteuertes, individualisiertes Lernen
Die Fabriken des Taylorismus sahen noch gleiche Menschen vor, aber inzwischen wissen wir zum Glück individuelle Stärken und Schwächen stärker zu schätzen und Heterogenität auch wirtschaftlich als Erfolgsfaktor zu begreifen. Trotz begrenzter Möglichkeiten der Differenzierung beschulen wir im Unterricht aber immer noch bis zu 32 Schüler gemeinsam weitestgehend gleich. Das halte ich nicht mehr für zeitgemäß und glaube, dass die Schule individuelle Lernwege stärker ermöglichen sollte, sodass es zwar Mindeststandards aber vor allem viel mehr Lernportfolioarbeit gibt. Dabei soll keine Beliebigkeit des Lernens entstehen, sondern eine betreute Auswahl von fordernden Lernprojekten angeboten werden. Die daraus entstehenden Portfolios wären zudem für spätere berufliche Bewerbungen viel aussagekräftiger als schlecht vergleichbare Notenskalen von 1 bis defacto 5
Projektlernen
Die Neurowissenschaften haben inzwischen hinreichend erforscht, dass unser Gehirn nicht für Multitasking gemacht ist. Zudem wird die Fähigkeit kreativ zu sein und „Deep Thinking“ zu beherrschen für die berufliche Zukunft als wichtig erachtet. In der Schule werden allerdings im 45- oder 90-Minuten-Takt verschiedenste Inhalte und Kompetenzen erwartet, was ich dazu im Widerspruch halte. Stattdessen könnten nicht zerrissene komplexe Lernsituationen vermitteln, um an einem Thema oder einer Problemstellung als Projekt konzentriert und zusammenhängend zu lernen. Jedes Projekt wird sicher einer Vor- und einer Nachbereitungszeit bedürfen, aber wesentlich sollte die ausreichende organisatorische Zeit ohne Stundenplanstress sein, sodass dort verschiedenste Kompetenzen realer und ununterbrochen sich entwickeln können.
Kompetenzorientierung
Das menschliche Wissen vervielfältigt sich in einer zunehmenden Geschwindigkeit und das Wissen von Gestern wird immer öfter nicht mehr beim Lösen von Problemen heute und morgen helfen. Daher gilt es umso dringender sich auf Metafähigkeiten zu konzentrieren und das zu vermitteln, was immer da war und auch bleiben wird: Soziale Kompetenz, analytische Kompetenzen, prozedurale Kompetenzen, kommunikative Kompetenzen, technische Fähigkeiten und unter anderem auch Fachinhalte, die einen ausreichenden Orientierungsrahmen bieten. Diese dürfen aber nicht mehr den gleichen, auch durch veraltete Formen der Leistungsbewertung erlangten (siehe auch hier) dominierenden Stellenwert haben, wie das früher zum Teil war. Wenn ich die Antwort auf eine Prüfungsfrage mit drei Sekunden Internetrecherche mit einer Suchmaschine finden kann, dann muss man eine Antwort darauf haben, wieso Schülerinnen und Schüler das lernen sollen, z.B. weil man sonst andere Zusammenhänge nicht versteht.
Aktuelle Berufsorientierung
Sich an der Beruflichkeit von vor 10, 20 oder noch mehr Jahren zu orientieren, wird in vielen Berufen wenig für die Zukunft bringen. Im vergangenen Innovationstempo konnte man das noch verantworten, aber heutzutage gilt es die Konstanten zu identifizieren und sich an dem zu orientieren, was aktuell und neu in einer Berufsbranche ist. Die Innovationsgeschwindigkeit hat schon fast überall extrem zugenommen und wird es sehr wahrscheinlich noch mehr. Schlimmer erscheint es mir sogar bei vielen wissenschaftlichen Grundlagen, wo zum Teil 60 Jahre alte Theorien wie der Homo Oeconomicus noch in den Bildungsplänen stehen, während die aktuell dominierenden und deutlich praxistauglicheren verhaltensorientierten Ansätze nicht vorkommen.
Selbstführung und-management
Während sehr detaillierte diverse Fachinhalte in Bildungsplänen aufgelistet sind, werden die Grundlagen, dass man diese gut erlernt und später auch erfolgreich sein Leben führen kann, vermittelt. Die wenigen Stunden Sportunterricht reichen kaum, um die Grundlagen einer gesunden, zufriedenen, selbstgesteuerten Lebensführung zu vermitteln. Für die Fabrik war das sogar kontraproduktiv und wer die Rente nicht erlebte, fiel dann auch nicht der Allgemeinheit zur Last, aber das darf schwerlich noch unser aktuelles Menschenbild in der Schule sein. Wo vermitteln wir also hinreichend die Grundlagen für Resilienz, dass Schülerinnen und Schüler nicht so anfällig für die neuen Volksleiden Rückenschmerzen oder Depression werden? In der fremdgesteuerten Stundenplantaktung, am besten noch ergänzt durch digitale Tools bis in den Nachmittag und sogar Abend, lernt man sicher keine Achtsamkeit und Selbstverantwortung. Wir vermitteln Disziplin und Angepasstheit unter Druck, was Computer viel besser beherrschen, anstatt Kreativität und Problemlösung, in der man viel besser ohne Druck ist. Es scheint mir ein System für Aktivität anstatt Qualität zu sein, wo für abschließende Klausuren und Prüfungen gelernt wird, aber nicht für ein gutes Leben.
Fehlerkultur
Da damit zu rechnen ist, dass Standardverfahren immer leichter automatisiert werden können und seltener Menschen für solche Tätigkeiten nötig sind, gilt es, Schülerinnen und Schüler auf komplexe Projekte vorzubereiten. Dabei anzunehmen, dass Neues auf Anhieb fehlerfrei funktioniert, wäre arrogant, weswegen Lernende eine positive Fehlerkultur lernen sollten. Fehler sind nicht nur schlecht, sondern sie schließen auch falsche Lösungswege aus und bringen einen damit ein Stück der Lösung näher, wenn man sie annimmt und daraus lernt. Gerade in komplexen Problemen gehört ein erstes Scheitern vielleicht sogar dazu und in Teams sollte man Wege lernen, mit den sozialen Prozessen dabei produktiv umzugehen. Dieses Lernen kann durch ‚formative assessment‘ in der Leistungsbewertung auch angemessen berücksichtigt werden.
Outputorientierung anstatt Anwesenheitsverwaltung
Wenn man bis 32 Schülerinnen und Schüler mit einer Lehrkraft für 45 oder 90 Minuten über ein Schuljahr in einen Klassenraum tut, dann kommt Bildung heraus und das wird nicht hinterfragt, denn was seit mindestens 5 Generationen läuft, das muss gut sein. Diese Vorstellung halte ich für überholt und würde mir eine konsequentere Output-Orientierung mit zu meisternden Handlungssituationen wünschen, auf dessen Vorbereitung die Lernenden je nach eigenem Lernbegleitungs- und Lernberatungsbedarf auch nicht zwingend in der Schule sein müssen. Menschen sind unterschiedlich und daher ist eine fast tayloristische Vorstellung von ihnen als Lernrobotern, die alle in der gleichen (berufsfremden) Umgebung zur Lernzielerreichung gedeihen, für mich befremdlich. Aus diesem Grund halte ich das Konzept von zu entschuldigenden Fehlzeiten für ein Verwalten von Lernenden und würde mich über mehr Möglichkeiten zum Lernbegleiten freuen, auch mit der Möglichkeit, kontrollierte Freiheiten zu gewähren. Dabei bilde ich mir ein, dass viele schulische Probleme oft Ausdruck von außerschulischen Problemen sind und dass man auch dabei nicht dem Irrglauben aufsitzen sollte, dass der Schulbesuch das richtet. Stattdessen wären andere, unbürokratische und vor allem mehr Hilfsangebote sicherlich hilfreich, wenn wir als Gesellschaft mehr Schülerinnen und Schüler erfolgreicher bilden wollen.
Der Fremdsprache aussetzen
Ich bin Fremdsprachenlehrer und trotzdem oder gerade deshalb glaube ich, dass die Möglichkeiten des Fremdsprachenunterrichts begrenzt sind und dass wir damit realistisch umgehen müssen. Es gilt die Begeisterung für eine andere Sprache zu wecken und dann sollten alle Lernenden möglichst immersive Lernmöglichkeiten in Form von Auslandsaufenthalten erhalten. Dort lernt man Sprache erst richtig gut und nicht im Klassenzimmer. Wenn man sich die Geschwindigkeit und Qualität von Google Translator oder DeepL anschaut, dann werden da Ergebnisse erzielt, die über den Fähigkeiten der meisten meiner Schüler und Schülerinnen liegen. Sie müssten also besser sein als die Maschine und dazu reichen zwei oder drei Stunden zusammen mit 20 bis 30 anderen im Unterricht leider nicht aus. Also kann die Antwort nur lauten, sie da raus zu schicken, allein schon, weil es für die Persönlichkeitsbildung eine wichtige Erfahrung ist.
To be constantly refined and continued
Beitragsbild: meineresterampe auf Pixabay. URL: https://pixabay.com/de/photos/ziel-zielscheibe-pfeil-mitte-755802/ (04.05.2015)(Zugriff: 22.01.2021)
Zu „Wenn man bis 32 Schülerinnen und Schüler mit einer Lehrkraft für 45 oder 90 Minuten über ein Schuljahr in einen Klassenraum tut, dann kommt Bildung heraus und das wird nicht hinterfragt, denn was seit mindestens 5 Generationen läuft, das muss gut sein.“ möchte ich zwei Beispiele ergänzen, dass der o.g. Satz auch definitiv hinterfragt werden muss. Wenn ein Segelschiff sich immer am Kompass ausrichtet, jedoch nicht seine eigene Position berücksichtigt, soll meinen wenn nicht das Ziel sondern nur die Richtung interessiert, können Einflüsse wie Versatz durch Strömung etc. gar nicht berücksichtigt werden. Dieses Gleichnis kann auf dieses Kapitel übertragen werden um den Punkt zu unterstreichen.
Eine große Frage jedoch bleibt. Wie gestaltet man Unterricht denn individuell für 30 Schüler? Sicherlich bedarf es bei Revolutionen oder großen Umbrüchen einer gehörigen Anstrengung. Jedoch steckt auch hinter oder in einem Lehrer auch immer noch ein Mensch mit zusätzlichen anderen Aufgaben. Was also tun, als Lehrer vor einer Klasse mit den richtigen Ideen?
Mir wäre am liebsten man gestaltet Unterricht gar nicht, sondern Lernen und da können Einzelpersonen oder kleine Gruppen mit Lernsituationen befasst sein, während die Lehrkraft eine einzelne Person oder eine andere Gruppe unterstützt. Die Zahl 32 ist für mich eine gute Zahl für hierarchische Strukturen, wie z.B. einen Zug in den Streitkräften oder früher die Klasse im Unterricht, wo es um Kontrolle und zentrale Führung geht. Beim Fokus auf Eigenständigkeit habe ich da schon Zweifel, ob das gut ist. Im Berufsalltag sehe ich zudem selten Teams aus 32 kollaborativ arbeitende Mitarbeiterinnen und -arbeiter, so dass sich die Frage stellt, worauf da Schule vorbereiten soll?